EuGHMR: Kein Recht mutmaßlich leiblicher Väter auf Anfechtung der Vaterschaft

Pressemitteilung des Kanzlers

ECHR 120 (2012)

22.03.2012

Abweisung von Klagen mutmaßlich leiblicher Väter zur

Anfechtung der Vaterschaft nicht konventionswidrig

In seinen heute verkündeten Kammerurteilen in den Verfahren Ahrens gegen

Deutschland (Beschwerdenummer 45071/09) und Kautzor gegen Deutschland

(Beschwerdenummer 23338/09), die noch nicht rechtskräftig sind1, stellte der

Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einstimmig fest, dass keine

Verletzung von Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens)

und keine Verletzung von Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14

(Diskriminierungsverbot) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK)

vorlag.

Beide Fälle betrafen die Entscheidungen der deutschen Gerichte, Klagen zur Anfechtung

der Vaterschaft abzuweisen, die die Beschwerdeführer erhoben hatten. Einer der

Beschwerdeführer ist leiblicher Vater einer Tochter, der andere mutmaßlich leiblicher

Vater einer Tochter; rechtlicher Vater ist jeweils ein anderer Mann, der mit der

Kindesmutter zusammen lebt.

Zusammenfassung des Sachverhalts

Der Beschwerdeführer im ersten Verfahren, Denis Ahrens, geboren 1970, lebt in Berlin.

Der Beschwerdeführer im zweiten Verfahren, Heiko Kautzor, geboren 1971, lebt in

Willich. Beide sind deutsche Staatsangehörige.

Herr Ahrens ging davon aus, Vater einer im August 2005 geborenen Tochter zu sein,

mit deren Mutter, Frau P., er eine Beziehung gehabt hatte. Zur Zeit der Empfängnis lebte

Frau P. mit einem anderen Mann, Herrn M., zusammen, der die Vaterschaft für das Kind

anerkannte. Das Paar hat das gemeinsame Sorgerecht und kümmert sich gemeinsam

um das Kind. Im Oktober 2005 erhob Herr Ahrens Klage wegen Anfechtung der

Vaterschaft von Herrn M. und gab eine eidesstattliche Versicherung ab, er habe während

der Empfängniszeit intime Kontakte mit Frau P. gehabt. Herr M. machte geltend, er

übernehme die volle elterliche Verantwortung für das Kind, selbst wenn er nicht der

leibliche Vater sei.

Nach Anhörung aller Parteien stellte das Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg mit Urteil

vom April 2007 fest, dass Herr Ahrens leiblicher Vater des Kindes sei. Das Gericht

berücksichtigte ein Sachverständigengutachten sowie das Ergebnis eines Bluttests, der

Herrn Ahrens’ biologische Vaterschaft nachwies, und kam zu der Auffassung, dass er

nicht an der Anfechtung der Vaterschaft von Herrn M. gehindert sei. Im August 2007 hob

das Kammergericht Berlin das Urteil des Amtsgerichts auf und befand, dass Herr Ahrens

kein Recht habe, die Vaterschaft anzufechten, da zwischen Herrn M. und dem Kind eine

sozial-familiäre Bindung bestehe, die andauere, obwohl erwiesen sei, dass Herr M. nicht

1 Gemäß Artikel 43 und 44 der Konvention sind Kammerurteile nicht rechtskräftig. Innerhalb von drei Monaten

nach der Urteilsverkündung kann jede Partei die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer

beantragen. Liegt ein solcher Antrag vor, berät ein Ausschuss von fünf Richtern, ob die Rechtssache eine

weitere Untersuchung verdient. Ist das der Fall, verhandelt die Große Kammer die Rechtssache und

entscheidet durch ein endgültiges Urteil. Lehnt der Ausschuss den Antrag ab, wird das Kammerurteil

rechtskräftig.

Sobald ein Urteil rechtskräftig ist, wird es dem Ministerkomitee des Europarats übermittelt, das die Umsetzung

der Urteile überwacht. Weitere Informationen zum Verfahren der Umsetzung finden sich hier:

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der leibliche Vater sei. Im Mai 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die

Verfassungsbeschwerde Herrn Ahrens’ zur Entscheidung anzunehmen.

Herr Kautzor ging davon aus, Vater der im März 2005 geborenen Tochter seiner

ehemaligen Ehefrau, Frau D., zu sein. Frau D. lebt mit einem neuen Partner, Herrn E.,

zusammen, der die Vaterschaft für das Kind im Mai 2006 anerkannte. Später bekam das

Paar zwei weitere Kinder und heiratete. Herr Kautzor teilte seiner ehemaligen Ehefrau

mit, dass er Umgang mit dem Kind wünsche und beabsichtige, die Vaterschaft

anzuerkennen. Im Juli 2006 reichte er beim Amtsgericht Bielefeld Klage auf Feststellung

seiner Vaterschaft ein und erweiterte die Klage im Folgenden um einen Antrag auf

Anfechtung der Vaterschaft von Herrn E.

Nach Anhörung der Parteien einschließlich des für das Kind bestellten Verfahrenspflegers

wies das Amtsgericht die Anträge Herrn Kautzors mit Urteil vom Juni 2008 zurück. Das

Gericht befand, dass er von der Vaterschaftsanfechtung ausgeschlossen sei, weil eine

sozial-familiäre Beziehung zwischen dem Kind und seinem rechtlichen Vater Herrn E.

bestehe. Da das Kind einen rechtlichen Vater habe, habe Herr Kautzor auch kein Recht

auf Feststellung seiner Vaterschaft durch einen Gentest. Das Oberlandesgericht wies

seine Berufung im Dezember 2008 zurück. Auf eine Anhörungsrüge Herrn Kautzors

bestätigte das Oberlandesgericht, dass er nach den maßgeblichen Bestimmungen des

BGB in der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts auch nicht berechtigt sei, eine

Abstammungsuntersuchung einzufordern, ohne dass seine rechtliche Vaterschaft

festgestellt würde. Im Juni 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ab, die

Verfassungsbeschwerde Herrn Kautzors zur Entscheidung anzunehmen.

Beschwerde, Verfahren und Zusammensetzung des Gerichtshofs

Unter Berufung auf Artikel 8 für sich genommen und in Verbindung mit Artikel 14 rügten

beide Beschwerdeführer die Entscheidungen der deutschen Gerichte, ihre Klagen zur

Anfechtung der Vaterschaft zurückzuweisen, und machten geltend, dass sie im

Verhältnis zur Mutter, zum rechtlichen Vater und zum Kind diskriminiert würden.

Die Beschwerde Herrn Ahrens’ wurde am 18. August 2009 und die Beschwerde Herrn

Kautzors am 30. April 2009 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

eingelegt. Im Fall Ahrens erhielten Frau P. und Herr M., die rechtlichen Eltern der

leiblichen Tochter des Beschwerdeführers, die Erlaubnis, als Drittpartei eine

Stellungnahme einzureichen.

Die Urteile wurden von einer Kammer mit sieben Richtern gefällt, die sich wie folgt

zusammensetzte:

Dean Spielmann (Luxemburg), Präsident,

Elisabet Fura (Schweden),

Boštjan M. Zupan?i? (Slowenien),

Mark Villiger (Liechtenstein)

Ganna Yudkivska (Ukraine),

Angelika Nußberger (Deutschland),

André Potocki (Frankreich), Richter,

und Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin.

Entscheidung des Gerichtshofs

Artikel 8

In beiden Fällen kam der Gerichtshof zu der Auffassung, dass die Entscheidungen der

deutschen Gerichte, die Anträge der Beschwerdeführer auf Feststellung der rechtlichen

Vaterschaft für ihr leibliches bzw. mutmaßlich leibliches Kind zurückzuweisen, einen

Eingriff in ihr Recht auf Achtung des Privatlebens nach Artikel 8 darstellten. Gleichzeitig

befand der Gerichtshof, dass diese Entscheidungen keinen Eingriff in ihr Recht auf

Achtung des Familienlebens im Sinne von Artikel 8 bedeuteten, da niemals eine enge

persönliche Bindung zwischen den Beschwerdeführern und den Kindern bestanden hatte.

In einem anderen Fall, Anayo gegen Deutschland2, hatte der Gerichtshof eine Verletzung

von Artikel 8 aufgrund der Weigerung der deutschen Gerichte festgestellt, einem Mann

Umgang mit seinen leiblichen Kindern zu gewähren, da er nie eine sozial-familiäre

Bindung zu ihnen gehabt habe. Die von Herrn Ahrens und Herrn Kautzor erhobenen

Klagen hatten jedoch ein weitreichenderes Ziel: sie waren auf ihre vollständige

Anerkennung als rechtlicher Vater des jeweiligen Kindes ausgerichtet und somit darauf,

die Vaterschaft des existierenden rechtlichen Vaters anzufechten. Herr Kautzor rügte

darüber hinaus die mangelnde Möglichkeit, seine mutmaßliche Vaterschaft festzustellen,

ohne den rechtlichen Status des Kindes anzufechten.

Der Gerichtshof stellte fest, dass einer von ihm durchgeführten rechtsvergleichenden

Untersuchung zufolge mutmaßliche biologische Väter in einer Mehrheit der

Mitgliedstaaten des Europarats die Möglichkeit haben, die – durch

Vaterschaftsanerkennung festgestellte – Vaterschaft eines anderen Mannes anzufechten,

selbst wenn der rechtliche Vater in einer sozial-familiären Beziehung mit dem Kind lebt.

In einer signifikanten Minderheit von neun Mitgliedstaaten hingegen hat der mutmaßliche

biologische Vater keine Möglichkeit, die Vaterschaft des rechtlichen Vaters anzufechten.

Folglich besteht kein gefestigter Konsens und die Mitgliedstaaten verfügen daher über

einen weiten Beurteilungsspielraum im Hinblick auf die Festlegung des rechtlichen Status

eines Kindes in einer entsprechenden Situation.

Zwar hatten die Beschwerdeführer Anspruch auf Schutz ihres Interesses an der

Feststellung eines wesentlichen Gesichtspunktes ihres Privatlebens und an dessen

rechtlicher Anerkennung. Die Entscheidungen der deutschen Gerichte hatten aber darauf

abgezielt, dem Willen des Gesetzgebers zu entsprechen, einem bestehenden

Familienverband zwischen dem betroffenen Kind und seinem rechtlichen Vater, der sich

regelmäßig um das Kind kümmert, Vorrang einzuräumen gegenüber der Beziehung

zwischen dem (angeblichen) leiblichen Vater und seinem Kind. Aus dem Urteil im Fall

Anayo gegen Deutschland ließ sich ableiten, dass die Mitgliedstaaten nach Artikel 8

verpflichtet sind zu prüfen, ob es im Kindeswohlinteresse liegt, dem leiblichen Vater die

Möglichkeit zu geben, eine Beziehung zu seinem Kind aufzubauen, etwa durch

Gewährung des Umgangsrechts. Daraus folgt aber nicht notwendigerweise eine

Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach der Konvention, biologischen Vätern die

Möglichkeit einzuräumen, den Status des rechtlichen Vaters anzufechten.

Im Hinblick auf den Fall Kautzor stellte der Gerichtshof fest, dass keiner der 26

Mitgliedstaaten, die er in seiner rechtsvergleichenden Untersuchung berücksichtigt hatte,

ein Verfahren vorsieht, um die biologische Vaterschaft festzustellen, ohne gleichzeitig die

Vaterschaft des rechtlichen Vaters anzufechten. Die Entscheidung, die Möglichkeit einer

solchen separaten Prüfung vorzusehen oder nicht, fiel folglich auch in den

Beurteilungsspielraum des Staates.

Der Gerichtshof zeigte sich darüber hinaus überzeugt, dass die deutschen Gerichte die

jeweilige Situation in beiden Fällen sorgfältig geprüft hatten. Folglich lag in beiden Fällen

keine Verletzung von Artikel 8 vor.

Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14

Der Gerichtshof stellte fest, dass der Hauptgrund für die Ungleichbehandlung der

Beschwerdeführer im Vergleich zur Mutter, zum rechtlichen Vater und zum Kind

hinsichtlich der Möglichkeit, die Vaterschaft anzufechten – und im Fall Kautzor

hinsichtlich der Möglichkeit, einen Gentest zu verlangen – in der Absicht lag, das

jeweilige Kind und seine soziale Familie vor äußerer Beeinträchtigung zu schützen. In

Erwägung seiner Schlussfolgerungen hinsichtlich Artikel 8 kam der Gerichtshof zu der

2 Anayo gegen Deutschland 20578/07 vom 21. Dezember 2010

Auffassung, dass die Entscheidung, einem bestehen Familienverband zwischen dem

betroffenen Kind und seinen rechtlichen Eltern Vorrang einzuräumen gegenüber der

Beziehung zu seinem biologischen Vater, soweit dessen rechtlicher Status betroffen war,

in den Beurteilungsspielraum des Staates fiel. Folglich lag in beiden Fällen keine

Verletzung von Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 vor.

Die Urteile liegen nur auf Englisch vor.

Diese Pressemitteilung ist von der Kanzlei erstellt und für den Gerichtshof nicht bindend.