BVerfG: Kein Ordnungsgeld wegen fehlenden Aufsichtsratsberichts über Jahresabschluss wenn kein Aufsichtsrat besteht

Bundesverfassungsgericht – Pressestelle –

Pressemitteilung Nr. 11/2014 vom 19. Februar 2014
Beschluss vom 9. Januar 2014
1 BvR 299/13

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Ordnungsgeld
wegen fehlenden Aufsichtsratsberichts

Verstößt eine Kapitalgesellschaft gegen ihre Pflicht, einen Aufsichtsrat
zu bilden, darf gegen sie nicht deswegen ein Ordnungsgeld verhängt
werden, weil sie aufgrund des fehlenden Aufsichtsratsberichts ihre
Pflicht zur Veröffentlichung des Jahresabschlusses verletzt habe. Dies
hat die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts in
einem heute veröffentlichten Beschluss entschieden. Das
Bestimmtheitsgebot verlangt, den Ordnungswidrigkeitentatbestand nur auf
Jahresabschlussunterlagen zu erstrecken, die nachträglich noch erstellt
werden können; bei gänzlich fehlendem Aufsichtsrat ist das für den
Aufsichtsratsbericht nicht der Fall.

Sachverhalt und Verfahrensgang:

Die Beschwerdeführerin, eine GmbH, war nach dem
Drittelbeteiligungsgesetz verpflichtet, einen Aufsichtsrat zu bilden,
was jedoch unterblieb. Unter den Jahresabschlussunterlagen, die sie für
das zum 30. September 2010 abgeschlossene Geschäftsjahr einreichte,
befand sich deshalb kein Bericht des Aufsichtsrats. Das Bundesamt für
Justiz setzte wegen Verstoßes gegen die Veröffentlichungspflicht ein
Ordnungsgeld in Höhe von 2.500 € fest und drohte ein weiteres
Ordnungsgeld in Höhe von 5.000 € an. Die hiergegen gerichtete Beschwerde
wies das Landgericht zurück.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

Das Landgericht hat bei der Auslegung und Anwendung des
Ordnungswidrigkeitentatbestandes nach § 335 HGB das Bestimmtheitsgebot
des Art. 103 Abs. 2 GG verletzt. Der Beschluss des Landgerichts wird
daher aufgehoben und die Sache zurückverwiesen.

1. Das strenge Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG ist hier
sachlich anwendbar. Das Ordnungsgeld nach § 335 HGB hat einen
Doppelcharakter als sanktionierende und erzwingende Maßnahme. Schon
deswegen liegt es nahe, dass es nicht nur dem allgemeinen
Bestimmtheitsgebot, sondern auch den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2
GG genügen muss. Wenn – wie hier – nur ein sanktionierender Zweck
verfolgt wird, steht dies außer Frage. Die Beschwerdeführerin kann die
Vorlage eines Aufsichtsratsberichts für das in Rede stehende
Geschäftsjahr mangels bestehenden Aufsichtsrats substantiell nicht mehr
nachholen. Mithin läuft die Beugefunktion des Ordnungsgeldes leer; es
kann lediglich noch um die Sanktionierung für die Vergangenheit gehen.

2. Die vom Landgericht seiner Entscheidung zu Grunde gelegte Auslegung
des Ordnungsgeldtatbestandes trägt dem Bestimmtheitsgebot des Art. 103
Abs. 2 GG nicht hinreichend Rechnung.

a) Art. 103 Abs. 2 GG setzt nicht nur der Tatbestandsergänzung, sondern
auch der tatbestandsausweitenden Interpretation Grenzen. Das strikte
Bestimmtheitsgebot verlangt für strafrechtliche oder strafähnliche
Normen, dass sie das Erlaubte klar vom Verbotenen abgrenzen; Tragweite
und Anwendungsbereich des Tatbestandes müssen für den Betroffenen klar
erkennbar sein, sich zumindest durch Auslegung ermitteln lassen. Diese
Verpflichtung dient einem doppelten Zweck: Zum einen soll jeder
vorhersehen können, welches Verhalten mit einer Sanktion bedroht ist.
Zum anderen soll sichergestellt werden, dass der Gesetzgeber darüber
entscheidet, welches Verhalten sanktionswürdig ist.

b) Diesen Bestimmtheitsanforderungen genügt das der
Beschwerdeentscheidung zugrunde gelegte Normverständnis des § 335 Abs. 3
HGB nicht.

Zwar hat der Gesetzgeber handelsrechtlich ausdrücklich klargestellt,
dass die Nichterfüllung von Pflichten, die der Offenlegung vorausgehen,
dem Ordnungsgeldverfahren nicht entgegensteht. Diese den Tatbestand
öffnende Formulierung kann – sollen die Grenzen der Bestimmtheit gewahrt
werden – allenfalls auf die unmittelbar mit der Erstellung von Berichten
und Unterlagen zusammenhängenden Pflichten bezogen werden. Nur auf diese
Weise bleibt die Vorschrift noch abgrenzbar und in ihrer Tragweite
vorhersehbar. Sie erstreckt sich dann ersichtlich nur auf
Jahresabschlussunterlagen, die – dem Zweck der Offenlegungspflicht
folgend – noch erstellt werden können. Das ist bei der hier gegebenen
Konstellation jedoch nicht der Fall. Selbst ein nach der Androhung oder
Festsetzung des Ordnungsgeldes gebildeter Aufsichtsrat könnte keinen
substanziellen Bericht mehr erstatten, sondern allenfalls feststellen,
dass in der Berichtsperiode kein Aufsichtsrat bestanden hat und durch
ihn deshalb keine Kontrolle ausgeübt werden konnte.

Ein hinreichend bestimmtes Normverständnis ergibt sich auch nicht aus
einem Zusammenwirken mit den Vorschriften über die
Aufsichtsratspflichtigkeit von Unternehmen. Zur Bildung eines
Aufsichtsrats war die Beschwerdeführerin zwar verpflichtet. Bei
Nichtbefolgung dieser Pflicht sehen aber weder das
Drittelbeteiligungsgesetz noch die entsprechend anzuwendenden
Vorschriften des Aktiengesetzes eine Sanktionierung vor, sondern ein
anderes, spezifisches Durchsetzungsprozedere: Der Gesetzgeber hat sich
darauf beschränkt, unter anderem Arbeitnehmern, Betriebsrat und
Gewerkschaften nach bestimmten Maßgaben die Antragsberechtigung zur
Durchführung des für die Bildung eines Aufsichtsrats erforderlichen
Statusverfahrens zuzuerkennen. Von diesen Möglichkeiten war hier aber
kein Gebrauch gemacht worden.